Fulko Lenz
Kernaussagen
- Angesichts der dramatischen wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und gesundheitlichen Nebenwirkungen der zur Eindämmung von COVID-19 erfolgten Grundrechtsbeschränkungen, gilt es Wege zu finden, diese schnellstmöglich zu beenden und in einem ersten Schritt zielgenauer auszugestalten. Wenn der Einsatz digitalen Trackings einen entscheidenden Beitrag dazu leisten kann, darf er nicht von vorneherein mit Denkverboten belegt werden.
- Statt schwammig formulierter Blankoschecks für weitreichende staatliche Überwachung müssen klar definierte Maßnahmen zur Diskussion gestellt werden, bei denen eine transparente Überprüfung von Eignung, Erforderlichkeit und Angemessenheit erfolgen kann. In eine sorgfältige Abwägung von Rechten und Schutzinteressen ist auch der Datenschutz einzubeziehen.
- Bei der möglichen Verwendung von Tracking-Apps, deren Wirksamkeit sich erst noch erweisen muss, sollte ein Ansatz verfolgt werden, der auf Freiwilligkeit und Kooperationsbereitschaft setzt und den behördlichen Datenzugriff auf das absolute Minimum reduziert.
Die Diskussion um die Verwendung von Handydaten bei der Eindämmung von COVID-19 ist in vollem Gange. Verwiesen wird dabei regelmäßig auf die z.T. sehr weitreichenden digitalen Überwachungsmethoden in asiatischen Ländern, denen es bislang zu gelingen scheint, die Ausbreitung des Virus relativ erfolgreich zu begrenzen. Zum jetzigen Zeitpunkt ist die Aussagekraft derartiger internationaler Vergleiche allerdings begrenzt: Beobachten lassen sich womöglich eher Korrelationen als Kausalitäten. Welche konkreten Faktoren und in welchem Umfang einzelne Maßnahmen zur Eindämmung der Epidemie in bestimmten Ländern beigetragen haben, lässt sich noch nicht mit Sicherheit sagen.
Allein eine Debatte über „digitales Tracking“ wäre noch vor wenigen Wochen undenkbar gewesen in einem Land, dessen gewählte Volksvertreter sich erst kürzlich gegen eine Widerspruchslösung bei der Organspende als einen zu tiefen Eingriff in die Selbstbestimmung ausgesprochen haben. Gleichsam undenkbar waren jedoch auch die bereits erlassenen Beschränkungen von Grundrechten wie der Bewegungs-, Reise- und Gewerbefreiheit, die bei aller Notwendigkeit dramatische wirtschaftliche, gesellschaftliche und nicht zuletzt auch gesundheitliche Nebenwirkungen nach sich ziehen werden. Kaum von der Hand zu weisen ist, dass die – vorübergehende – Nachverfolgung physischer Kontakte ein geringerer Eingriff ist als ein vollständiges Verbot derselben. Wenn der Einsatz digitalen Trackings daher einen entscheidenden Beitrag dazu leisten kann, die Einschränkungen früher zu beenden oder gezielter auszugestalten, ohne einen Zusammenbruch des Gesundheitssystem zu riskieren, sind pauschale Denkverbote fehl am Platze.
Gleichzeitig muss jedoch ebenso gelten, dass auch ein noch so legitimer, unzweifelhafter und überragend wichtiger Zweck nicht jedes Mittel heiligt. Insoweit ist gerade jetzt eine sorgfältige Prüfung der Verhältnismäßigkeit von weiteren Grundrechtseingriffen unabdingbar. Grundvoraussetzung hierfür ist, dass keine maximal schwammigen Kompetenzen zum Einsatz „technischer Mittel“ geschaffen werden, die einem politischen Blankoscheck zur Totalüberwachung gleichkämen. Stattdessen müssen klar definierte Maßnahmen zur Diskussion gestellt werden, bei denen eine transparente Überprüfung von Eignung, Erforderlichkeit und Angemessenheit erfolgen kann.
Im Wesentlichen kommen drei verschiedene Verwendungsarten von über Mobiltelefone gewonnenen Standortdaten infrage. Erstens liefern anonymisierte und aggregierte Bewegungsdatensätze Erkenntnisse über Bewegungsströme und ermöglichen Vorhersagen zur Ausbreitung der Krankheit sowie eine generelle Überprüfung der Einhaltung erlassener Einschränkungen der Bewegungsfreiheit. Dies ist wegen des fehlenden Personenbezugs der Daten eher unproblematisch und wird auf Basis recht ungenauer Funkzellendaten von Mobilfunkbetreibern in Deutschland bereits praktiziert.
Zweitens können individualisierte Standortdaten verwendet werden, um die Einhaltung erlassener Isolierungs- oder Quarantänemaßnahmen im Einzelfall zu überprüfen. Hierfür müssten wesentlich genauere Standortdaten auf Basis von GPS, W-LAN oder Bluetooth verwendet werden. Ungeklärt ist jedoch, inwieweit solche Kontrollmaßnahmen überhaupt erforderlich sind, also ob erlassene Vorgaben in erheblichem Umfang missachtet werden. Zudem kann die Kontrolle der Einhaltung von Isolierungsmaßnahmen auf individueller Ebene schlicht umgangen werden, indem das Smartphone zu Hause gelassen wird. Ein an die digitale Fußfessel erinnernder, derart tiefer Eingriff in die Privatsphäre auf Basis einer Generalverdächtigung aller potenziell Infizierten erscheint daher unverhältnismäßig und ist folgerichtig abzulehnen. Abwägen muss man zudem, dass das Risiko der Verheimlichung möglicher Infektionen steigen dürfte, je restriktiver und invasiver Quarantänen ausgestaltet werden.
Drittens können Handydaten für die Nachverfolgung von Personen benutzt werden, die mit Infizierten in Kontakt waren. Sollte es tatsächlich gelingen, in nächster Zeit die Zahl der Neuinfektionen deutlich zu reduzieren, dürfte eine effektive und leistungsfähige Kontaktverfolgung ein entscheidender Baustein bei der Verhinderung eines erneuten, unkontrollierbaren Ausbruchs der Epidemie sein. In einigen europäischen Ländern, darunter auch Deutschland, ist daher die Einführung einer freiwilligen App geplant. Sie soll mittels Bluetooth feststellen, wenn zwei Mobiltelefone, auf denen die App installiert ist, sich in unmittelbarer Nähe zueinander aufhalten, und diese Kontakte anonymisiert, lokal und vorübergehend speichern. Im Falle eines bestätigten COVID-19-Falles könnten möglicherweise infizierte Personen per App informiert werden und eigenverantwortlich entscheiden, wie sie sich verhalten wollen. Da vor allem die Information darüber entscheidend ist, dass ein Kontakt stattgefunden hat und weniger, wo dieser erfolgt ist, könnte der behördliche Datenzugriff auf ein Mindestmaß reduziert werden. Eine staatliche Sammlung und Auswertung detaillierter Bewegungsprofile wäre nicht erforderlich. Ebenso könnte die Ansprache potenziell Infizierter in anonymisierter Form und ohne Preisgabe der Infektionsquelle erfolgen.
Bedacht werden muss jedoch, dass räumliche Nähe für das Infektionsrisiko nicht alleine ausschlaggebend ist. Daher ist auch die Wirksamkeit einer Tracking App nicht über jeden Zweifel erhaben. Einerseits würden zwangsläufig Infektionen übersehen, auch weil vor allem in älteren Bevölkerungs- und damit Risikogruppen nicht jeder ein Smartphone besitzt. Andererseits besteht die Gefahr, dass zu viele völlig grundlose Warnungen erteilt werden und so übermäßige Ängste entstehen oder knappe Testkapazitäten unnötigerweise blockiert werden. Es ist daher nicht auszuschließen, dass eine „analoge“ Befragung Infizierter nach Kontaktpersonen eine bessere Datengrundlage liefert, wenngleich dies zeitaufwendiger ist und wegen fehlender Anonymität tendenziell einen tieferen Eingriff in die Privatsphäre darstellt. In jedem Fall hängt der Erfolg von Tracking als vorbeugende Maßnahme gegen eine Wiederausbreitung stark davon ab, dass auch für bloße Verdachtsfälle ausreichender Zugang zu schnellen und zuverlässigen Tests besteht.
Angesichts dessen spricht vieles für einen politischen Ansatz, der auf Freiwilligkeit und Kooperationsbereitschaft setzt und zugleich die Wirksamkeit der App konsequent evaluiert. Auch würde so Nutzern die eigenverantwortliche Entscheidung überlassen, die App nach einer gewissen Zeit wieder zu löschen. Eine verpflichtende Einführung gegen den Willen Betroffener könnte hingegen ohnehin durch einfachste Methoden unterwandert werden. Ausdrücklich zu begrüßen ist, dass die Entwicklung der App auf eine europaweite Umsetzung abzielt, denn ein gemeinsames Vorgehen könnte einen Beitrag dazu leisten, die innereuropäischen Bewegungseinschränkungen wieder zu lockern und wäre nicht zuletzt ein so dringend erforderliches Zeichen europäischer Einigkeit und Handlungsfähigkeit – noch dazu im Bereich digitaler Technologien.
Über diese minimalinvasive Art der digitalen Kontaktverfolgung hinausgehende Maßnahmen – wie flächendeckende und verpflichtende Übermittlung individueller Standortdaten oder sogar die Auswertung weiterer Datenquellen (z.B. Kreditkarten oder Überwachungskameras) – sollten hingegen auch im noch so zarten Ansatz verhindert werden. Selbst für einen anfangs legitimen Zweck einmal geschaffene Überwachungsinstitutionen können ein schwer kontrollierbares „Eigeninteresse“ an fortgesetzter Existenz und Kompetenzausweitung bis hin zum Missbrauch entwickeln. Es ist nicht zu befürchten, dass die nun erfolgte, weitgehende Stilllegung des öffentlichen und wirtschaftlichen Lebens in einer demokratischen und freiheitlichen Gesellschaft länger aufrechterhalten bleibt, als dies aus epidemiologischer Sicht für notwendig erachtet und gesamtgesellschaftlich als vertretbar angesehen wird. Zu unmittelbar und offensichtlich sind die Beschneidungen der individuellen Freiheit. Anders stellt sich dies bei einer einmal durchgesetzten, wie auch immer gearteten staatlichen Ermächtigung zur digitalen Überwachung dar: Deren Existenz ist für die Mehrzahl der Bürger im täglichen Leben kaum spürbar. Der öffentliche Druck, diese nur so lange wie unbedingt erforderlich anzuwenden, dürfte daher ebenso gering ausgeprägt sein, wie die Möglichkeit, dessen tatsächliche Beendigung zu überprüfen. Wer könnte zudem sagen, in wieviel Jahren die Gefahr eines Wiederaufflammens der Infektion hinreichend gebannt wäre? Chinesische Verhältnisse kann niemand wollen. Die digitale Büchse der Pandora sollte man deshalb auch in Zeiten großer Not nicht weiter als unbedingt nötig öffnen. Es könnte sich als unmöglich erweisen, sie später wieder zu schließen.