Wieviel Fortschritt wagt die neue Bundesregierung?

Lars Feld / Jörg König

Kernaussagen

  • Die neue Bundesregierung möchte „mehr Fortschritt wagen“ und plant ein „Jahrzehnt der Zukunftsinvestitionen“. Gestaltungswillen und Reformbereitschaft zeigt sie vor allem in der Digitalisierungs- und Klimapolitik. In der Sozialpolitik drohen jedoch Rückschritte. Die Rentenpolitik zeugt angesichts des demografischen Wandels von Realitätsverlust.
  • Eine überzeugende Darlegung der Investitionsbedarfe und Finanzierungsmaßnahmen fehlt. Umso wichtiger ist das Bekenntnis zur Schuldenbremse und zu einer Überprüfung staatlicher Ausgaben und Subventionen. Zukunftsinvestitionen erfordern nicht zwingend mehr öffentliche Kredite, sondern Erleichterungen für die Umsetzung von Investitionen und eine Verbesserung der Standortattraktivität. Konkrete Maßnahmen wie etwa eine Steuerreform finden sich im Koalitionsvertrag allerdings kaum.
  • Angesichts zunehmender staatlicher Ausgaben- und Verschuldungsbestrebungen im Inland sowie in der EU wäre die neue Bundesregierung aus SPD, Bündnis90/Die Grünen und FDP gut beraten, nicht die Fehler der ersten sozialliberalen Ära ab 1969 zu wiederholen. Wie in der Digitalisierungs- und Klimapolitik sollte sie auch in der Sozial- und Finanzpolitik darum bemüht sein, nachhaltig zu agieren und die Belastungen für kommende Generationen zu berücksichtigen.

Willy Brandt und Walter Scheel wollten im Jahr 1969 mit der ersten sozialliberalen Regierungskoalition der Bundesrepublik „mehr Demokratie wagen“ und die Reformmüdigkeit der vorangegangenen Großen Koalition beenden. Ziel der eingeleiteten inneren Reformpolitik war die Modernisierung von Staat und Gesellschaft, nach 20 Jahren Regierungszeit standen CDU und CSU erstmalig in der Opposition. Erst die Bonner Wende des Jahres 1982 führte zum Ende der sozialliberalen Ära.

„Mehr Fortschritt wagen“ verspricht nun die erste sozialgrünliberale Bundesregierung. Wie vor einem halben Jahrhundert soll der Staat moderner, die Gesellschaft inklusiver und die Wirtschaft schlagkräftiger werden. Ein „Jahrzehnt der Zukunftsinvestitionen“ soll Deutschland in die Lage versetzen, zentrale Herausforderungen zu bewältigen, die im Zuge von Digitalisierung, Dekarbonisierung und Demografie anstehen. Es ist viel von Aufbruch und Reform die Rede. Doch wieviel Fortschritt ist von der neuen Bundesregierung tatsächlich zu erwarten?

Der Koalitionsvertrag ist ambitioniert und stimmt in einigen Bereichen zuversichtlich. In anderen Bereichen fehlt es allerdings an echtem Aufbruch und statt des angekündigten Fortschritts drohen Stillstand und Rückschritt.

In der Klimapolitik setzt die Ampel-Regierung richtigerweise auf einen lenkungswirksamen CO2-Preis als Leitinstrument. Wie von der EU-Kommission vorgeschlagen, soll der europäische Emissionshandel zunächst mit einem zweiten Emissionshandelssystem auf die Bereiche Wärme und Mobilität ausgeweitet und in den 2030er Jahren über alle Sektoren vereinheitlicht werden. Angestrebt wird die Gründung eines für alle Staaten offenen Klimaclubs, der mittelfristig zu einem globalen Emissionshandelssystem und einem einheitlichen CO2-Preis führen soll.

Es ist ein Fortschritt, dass mit dem Emissionshandel ein marktwirtschaftliches Instrument im Zentrum der Klimapolitik steht und von einer globalen Perspektive begleitet ist. Mit dem Emissionshandel lassen sich Klimaziele zielsicher und kosteneffizient erreichen. Dies ermöglicht im Gegensatz zur bisherigen kleinteiligen, verbots- und subventionsfokussierten Klimapolitik eine klare ordnungspolitische Orientierung, die auf die Potenziale des Marktes und des Wettbewerbs setzt.

Allerdings ist offen, wie stark die neue Regierung vom bisherigen Dirigismus in der Klimapolitik ablässt. Bis Ende 2022 soll ein Klimaschutz-Sofortprogramm mit allen notwendigen Gesetzen und Vorhaben auf den Weg gebracht und abgeschlossen sein. Das Sofortprogramm im Gebäudesektor hat bereits gezeigt, dass viel öffentliches Geld nicht notwendigerweise viel hilft. Es droht teure, ineffiziente und sektorspezifische Symbolpolitik, die künftig vom neu strukturierten Wirtschafts- und Klimaministerium ausgehen könnte. In diesem Zusammenhang ist die Verlängerung der Innovationsprämie beim Kauf eines Elektroautos bis Ende 2025 kritisch zu sehen.

Um das Potenzial des Emissionshandels voll auszuschöpfen und für Entlastung bei Verbrauchern und Unternehmen zu sorgen, wäre es sinnvoll, eine CO2-basierte Reform der Energiesteuern und -abgaben vorzunehmen. In keinem Land Europas ist der Strompreis so hoch wie in Deutschland. Etwa 51 Prozent des deutschen Strompreises bestehen aus Steuern, Abgaben und Umlagen. Eine stärkere CO2-Bepreisung sollte daher mit einer Reduktion staatlicher Energiepreisbestandteile einhergehen. Konsequenterweise soll die EEG-Umlage künftig nicht mehr über den Strompreis, sondern über den Energie- und Klimafonds finanziert werden. Zudem ist vorgesehen, die Förderung der erneuerbaren Energien mit dem Kohleausstieg auslaufen zu lassen. Was allerdings fehlt, ist die Absenkung der Stromsteuer auf das europäische Minimum sowie die Abschaffung der KWKG-Umlage. Das Festhalten an staatlichen Strompreiskomponenten sowie an der Luftverkehrsabgabe und den Plänen zur Einführung einer Kerosinsteuer unterlaufen die Effizienz des europäischen Emissionshandels.

Die Koalitionäre haben erkannt, dass die hohen Energiepreise in Deutschland weder sozial gerecht noch für die Wirtschaft wettbewerbsfähig sind. Das zur Entlastung angekündigte, aber nicht näher spezifizierte Klimageld könnte die Akzeptanz für die CO2-Bepreisung steigern. Denkbar wäre es, das Klimageld an Haushalte und Unternehmen pauschal mit dem Rundfunkbeitrag zu verrechnen.

Neben der Klimapolitik wird die Digitalisierung zu Recht ein wichtiger Schwerpunkt der neuen Legislaturperiode. Spätestens die Corona-Pandemie hat erkennen lassen, dass im Bereich der Digitalisierung erheblicher Aufholbedarf besteht. Dazu gehört eine priorisierte Digitalisierung von Planungs-, Genehmigungs- und Verwaltungsverfahren, um die Modernisierung der öffentlichen Verwaltung voranzubringen. Hinzu kommen ein beschleunigter und entbürokratisierter Digitalpakt 2.0 für die Schule, der Ausbau der digitalen Infrastruktur sowie der Zugang von Daten als entscheidender Faktor zur Implementierung datengetriebener Geschäftsmodelle. Ein Dateninstitut soll Datenverfügbarkeit und -standardisierung vorantreiben, Datentreuhändermodelle und Lizenzen etablieren. Dies könnte vor allem für Start-ups sowie für kleine und mittlere Unternehmen ein Innovationstreiber sein.

Kritisch zu hinterfragen ist jedoch die Schaffung eines nationalen Datengesetzes, falls der Fokus des Datenschutzes weiterhin vor allem darauf liegen sollte, neue Entwicklungen zu verhindern, statt diese zu ermöglichen. Die neue Bundesregierung sollte daher eine Sachverständigenkommission einsetzen, die Vorschläge für ein innovationsfreundliches europäisches Datenrecht entwickelt, um dieses proaktiv in die Konsultationen zur Schaffung des EU Data Act einbringen zu können.

Zur Finanzierung der klima- und digitalpolitischen Projekte sollen die 2020er Jahre zum Jahrzehnt für Zukunftsinvestitionen werden. Eine überzeugende Darlegung der Investitionsbedarfe und Finanzierungsmaßnahmen fehlt jedoch. Obwohl Bruttoanlageinvestitionen in Deutschland zu fast 90 Prozent von der Privatwirtschaft und nur zu etwa 10 Prozent vom Staat getätigt werden, scheinen öffentliche Investitionen in den Überlegungen der Koalitionäre eine bedeutendere Rolle einzunehmen. Diverse Schätzungen, die dazu vorliegen, überzeichnen in der Regel den öffentlichen Investitionsbedarf. Oftmals werden staatliche und private Aufgaben vermischt sowie Investitionen nicht klar von Subventionen abgegrenzt. Zukunftsinvestitionen erfordern nicht zwingend mehr öffentliche Kredite, sondern Erleichterungen für die Umsetzung von Investitionen durch eine Beseitigung des regulatorischen Wildwuchses und beschleunigte Genehmigungs- und Planungsverfahren. Das geht nicht ohne die Länder. Die Bundesregierung hat hier einige Überzeugungsarbeit zu leisten.

Umso wichtiger ist das Bekenntnis der Ampel-Koalition zur grundgesetzlichen Schuldenbremse. Diese hat sich in den Jahren seit der Finanzkrise und vor allem in der Corona-Krise bewährt. Wegen der Corona-Pandemie wird seit dem Jahr 2020 die Ausnahmeklausel der Schuldenbremse genutzt. Ab dem Jahr 2023 soll die Verschuldung wieder auf den von der Regelgrenze der Schuldenbremse vorgegebenen Spielraum beschränkt werden. Für die Jahre nach 2022 besteht genügend finanzieller Spielraum, wie aktuelle Studien und Steuerschätzungen nahelegen. Insbesondere sollte die vorgesehene Evaluierung des Konjunkturbereinigungsverfahrens nicht zu einer impliziten Aufweichung der Schuldenbremse führen. Es sollte vermieden werden, dass die Verfahren dabei politisiert werden und sich an Idealvorstellungen wie der Vollbeschäftigung orientieren.

Es wird in dieser Legislaturperiode vor allem darauf ankommen, die richtigen Prioritäten zu setzen und eine Ausgabenüberprüfung vorzunehmen. Insofern ist es begrüßenswert, dass zusätzliche Haushaltspielräume dadurch gewonnen werden sollen, dass überflüssige Subventionen und Ausgaben abgebaut werden. Die geplante Cannabis-Legalisierung kann durch Steuermehreinnahmen von mindestens 2,9 Milliarden Euro zusätzlichen Spielraum schaffen. Dass die Tilgung der Corona-Schulden nun erst ab dem Jahr 2028 erfolgen und bis 2058 gestreckt werden soll, entspricht zwar nicht dem Gedanken einer zeitnahen Tilgung und belastet vor allem die junge Generation, sie schafft für die nächsten Jahre aber ebenfalls finanziellen Spielraum.

Die Konsolidierung des Staatshaushaltes sollte vor allem über mehr Wirtschaftswachstum erfolgen. Dafür ist die Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit von entscheidender Bedeutung. Diese wird im Koalitionsvertrag zwar häufig betont, konkrete Maßnahmen zur Verbesserung der Standortattraktivität finden sich jedoch kaum. So konnte sich die neue Regierung nicht auf eine Senkung der Unternehmensteuern einigen. Somit bleibt Deutschland ein Land mit einer im internationalen Vergleich hohen Steuerbelastung. Nicht enthalten sind zudem die überfällige Abschaffung des Solidaritätszuschlags für alle Steuerzahler, also insbesondere für Personengesellschaften, sowie eine tragfähige Reform der Kommunalfinanzen. Die geplanten beschleunigten Abschreibungen und die Erweiterung der Verlustverrechnung stärken zwar das Wachstum, sind in ihrer konkreten Ausgestaltung jedoch zu begrenzt, um eine neue Wirtschaftsdynamik auszulösen.

Der Wirtschaftsaufschwung auf der europäischen Ebene soll mit dem zeitlich und in der Höhe begrenzten Wiederaufbauprogramm der EU (NGEU) erzeugt werden. Ob dies gelingt, hängt vor allem an den Reformbemühungen zur Steigerung des Produktionspotenzials in den Mitgliedstaaten. Der Stabilitäts- und Wachstumspakt (SWP) hat seine Flexibilität bewiesen, wie die Koalitionäre richtig schreiben. Eine weitergehende Flexibilisierung der europäischen Fiskalregeln ist daher weder notwendig noch zielführend. Weiterhin gilt, dass mehr Eigenverantwortung und das Zusammenfallen von Handlung und Haftung einer grenzüberschreitenden Solidarhaftung vorzuziehen sind, um der Überschuldung in Teilen Europas adäquat zu begegnen. Den SWP einfacher und transparenter zu gestalten, könnte in der Tat seine Durchsetzung stärken. Einer Lockerung der Regeln, wie sie gegenwärtig von Frankreich oder Italien forciert wird, sollte sich die Bundesregierung aber dringend widersetzen.

Die größten Schwächen hat der Koalitionsvertrag in der Rentenpolitik. In der umlagefinanzierten Gesetzlichen Rentenversicherung (GRV) alle Linien zu halten und ein höheres Renteneintrittsalter auszuschließen, zeugt von Realitätsverlust im demografischen Wandel. Das Ziel der Generationengerechtigkeit und eine nachhaltige Finanzierung der GRV werden so verfehlt. Eine stärkere Beanspruchung des Bundeshaushalts wird den Handlungsspielraum für künftige Generationen einengen. Die Wiedereinsetzung des Nachholfaktors sowie die Erweiterung der GRV um eine teilweise Kapitaldeckung sind richtige Schritte, aber in ihrer Dimension unzureichend, um eine grundlegende Verbesserung im Rentensystem herbeizuführen. Diese kann nur gelingen, wenn das gesetzliche Renteneintrittsalter an die Entwicklung der ferneren Lebenserwartung gekoppelt wird.

Wie die neue Bundesregierung den Koalitionsvertrag konkret umsetzt, werden die kommenden Jahre zeigen. In vielen Bereichen zeigt sie Gestaltungswillen und Reformbereitschaft. Vor allem in der Sozialpolitik drohen aber Rückschritte – einerseits durch eine ausbleibende nachhaltige Rentenreform, andererseits durch eine Politisierung des Mindestlohns sowie durch ein Bürgergeld, das das Prinzip von Fördern und Fordern in der Grundsicherung teilweise zurückdreht.

Die sozialliberale Koalition zielte ab dem Jahr 1969 ebenfalls nicht auf wachstums- und beschäftigungsfördernde Strukturreformen in der Sozialpolitik, sondern auf den Ausbau von Leistungen und auf die Ausweitung des Kreises von Leistungsempfängern. Nach 13 Jahren Regierungszeit hatten sich die Sozialausgaben verdreifacht, die Staatsquote stieg von 39 Prozent im Jahr 1969 auf 50 Prozent im Jahr 1982. Trotz Einführung der „Goldenen Regel der Finanzpolitik“ hatte sich die Staatsschuldenquote über die Jahre mehr als verdoppelt, die Zinslast des Bundes sowie die Arbeitslosenquote hatten sich bis Ende 1982 fast verzehnfacht. Die Tarifpartner verließen in dieser von Ölkrisen geprägten Zeit den Pfad produktivitätsorientierter Lohnabschlüsse. „Lieber fünf Prozent Inflation als fünf Prozent Arbeitslosigkeit“ war das wirtschaftspolitische Credo einer falsch verstandenen keynesianischen Nachfragepolitik. Die Ampel-Koalition wäre gut beraten, nicht die Fehler der ersten sozialliberalen Ära zu wiederholen.

Dieser Beitrag erschien zuerst im Online-Magazin „Profil – das bayerische Genossenschaftsblatt“, Ausgabe 01/2022″: https://www.profil.bayern/01-2022/topthema/wieviel-fortschritt-wagt-die-neue-bundesregierung/.