Problematische Entwicklungen in der Europäischen Sozialpolitik

Guido K. Raddatz

Kernaussagen

  • In Europa gibt es seit einigen Jahren Bestrebungen, die bisher größtenteils in nationaler Zuständigkeit liegende Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik stärker zu vereinheitlichen und durch EU-Vorgaben auszubauen. Auf dem Europäischen Sozialgipfel in Porto am 7. und 8. Mai 2021 soll das Ziel bekräftigt werden, die bisher rechtlich unverbindliche Europäische Säule sozialer Rechte durch konkrete Initiativen und Regulierungsvorhaben auf Basis des im März von der Kommission vorgelegten Aktionsplans voranzubringen.
  • Diese Pläne sind kritisch zu sehen und nicht geeignet, die Erfolgsgeschichte des Binnenmarktes und der europäischen Integration fortzuschreiben. Eine stärkere Zentralisierung der Sozialpolitik würde das Subsidiaritätsprinzip aushöhlen und wäre wohl der Einstieg in eine dauerhafte Transferunion bislang nicht gekannten Ausmaßes. Damit aber drohten nicht nur zahlreiche Fehlanreize und Governance Probleme, sondern am Ende auch ein weiteres Erstarken antieuropäischer Kräfte. Außerdem stellen einheitliche Sozialstandards ein subtiles, aber wirkungsvolles Protektionismusinstrument zugunsten der wohlhabenderen Staaten dar, während wirtschaftlich schwächere Mitgliedstaaten in ihrer Wettbewerbsfähigkeit beeinträchtigt und der europäische Konvergenzprozess behindert werden.
  • Die dezentrale Verortung der arbeitsmarkt- und sozialpolitischen Zuständigkeiten auf der Ebene der Mitgliedstaaten weist zahlreiche Vorteile auf: Neben der Berücksichtigung regionaler Präferenzunterschiede der Bürger sowie historisch gewachsener Unterschiede ermöglicht der Status quo den Mitgliedstaaten, passgenaue Lösungen für ihre jeweils spezifischen arbeitsmarkt- und sozialpolitischen Herausforderungen zu finden. Zudem wird institutioneller Wettbewerb und gegenseitiges voneinander Lernen (Föderalismus als Experimentierlabor) ermöglicht.
  • Eine Verlagerung nationaler Kompetenzen auf die europäische Ebene ist dort sinnvoll, wo es um europäische öffentliche Güter, die Funktionsfähigkeit des Binnenmarktes oder die Handlungsfähigkeit der EU gegenüber Drittstaaten geht. Die Sozialpolitik zählt allerdings größtenteils nicht dazu.

I. Aktuelle Entwicklungstendenzen in der europäischen Sozialpolitik

Die Proklamation der Europäischen Säule sozialer Rechte (ESSR)[1] am 17. November 2017, der sich daran anschließende gesellschaftspolitische Konsultationsprozess sowie der Anfang März 2021 von der Europäischen Kommission vorgelegte Aktionsplan[2] zur Europäischen Säule sozialer Rechte, der diese rechtlich eher unverbindliche Absichtserklärung mit konkreten Initiativen und ehrgeizigen Zielvorgaben bis zum Jahr 2030 Wirklichkeit werden lassen soll, kann als nachdrücklicher politischer Versuch gewertet werden, die Sozialpolitik der Mitgliedstaaten stärker zu vereinheitlichen bzw. durch Vorgaben und Regelungen der europäischen Ebene stärker zu zentralisieren.

Dementsprechend soll auf dem von der portugiesischen Ratspräsidentschaft geplanten Europäischen Sozialgipfel am 7. und 8. Mai 2021 in Porto nicht nur ein Schwerpunkt auf der Frage liegen, wie die soziale Dimension Europas angesichts der Herausforderungen von Klimawandel und Digitalisierung gestärkt werden kann, sondern darüber hinaus auch die Umsetzung der Europäischen Säule sozialer Rechte durch die Mitgliedstaaten bekräftigt werden.

In den in der ESSR formulierten 20 Prinzipien sieht die Kommission visionäre Leitlinien für ein neues europäisches „soziales Regelwerk“ und hält daher die Implementierung der Europäischen Säule sozialer Rechte für vordringlich. Zwar ist sich die Kommission bewusst, dass zentrale sozialpolitische Politikfelder, z.B. die Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik oder die Qualifizierungs- und Weiterbildungspolitik derzeit noch zu großen Teilen in den Verantwortungsbereich der Mitgliedstaaten fallen, gleichwohl versucht sie aber mit ihrem Aktionsplan nationale Maßnahmen zur Umsetzung der Prinzipien zu ergänzen und vor allem auch zu lenken. Dazu wurden im Aktionsplan u.a. drei quantitative sozialpolitische Ziele für die EU-Ebene formuliert, die bis zum Jahr 2030 erreicht werden sollen:[3]

  • In der Altersgruppe 20 bis 64 sollen mindestens 78 Prozent der Bevölkerung erwerbstätig sein. Um dieses Ziel zu erreichen sollen geschlechtsspezifische Beschäftigungsunterschiede mindestens halbiert werden (im Vergleich zum Jahr 2019), das Angebot an frühkindlicher  Bildung und Betreuung verbessert sowie der Anteil junger Menschen, die sich weder in Beschäftigung noch in Aus- oder Weiterbildung befinden, von 12,6 Prozent (2019) auf 9 Prozent gesenkt werden.
  • Mindestens 60 Prozent der Erwachsenen sollen jedes Jahr an einer Weiterbildungsmaßnahme teilnehmen. Ziel ist es u.a., dass mindestens 80 Prozent der Menschen im Alter zwischen 16 und 74 über grundlegende digitale Kompetenzen verfügen und dass die Schulabbrecherquote weiter reduziert wird.
  • Die Anzahl der von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedrohten Menschen soll um mindestens 15 Millionen (5 Millionen davon Kinder) sinken. Damit soll der positive Trend des letzten Jahrzehnts fortgeführt werden.

Darüber hinaus listet die Kommission im Aktionsplan eine Vielzahl von geplanten Initiativen und Aktivitäten für die kommenden Jahre bis 2024 auf, mit denen sie die Implementierung der 20 in der ESSR formulierten Prinzipien voranbringen will, und „ermutigt“ zugleich die Mitgliedstaaten, die Sozialpartner und weitere relevante Akteure, ergänzende und unterstützende Maßnahmen zu ergreifen.

Die Kommission zeigt zudem eine große Bereitschaft, die „gemeinsamen Anstrengungen“ aller Ebenen mit allen ihr zur Verfügung stehenden Instrumenten zu unterstützen, insbesondere auch finanziell über diverse EU-Fonds.[4] Explizit empfiehlt die Kommission den Mitgliedstaaten, „die beispiellosen EU-Mittel, die zur Unterstützung von Reformen und Investitionen im Einklang mit der Europäischen Säule sozialer Rechte zur Verfügung stehen, voll auszuschöpfen“. Insgesamt stehen der EU in den kommenden Jahren mit der Mittelfristigen Finanzplanung 2021-27 und dem daran gekoppelten NextGenerationEU-Aufbauinstrument 1,8 Billionen Euro zur Verfügung, die – in den Worten der Kommission – „Europa dabei helfen werden, sich von der COVID-19-Krise zu erholen und grüner, digitaler und sozial gerechter zu werden“.[5]

Alles in allem sind erhebliche politische Bestrebungen zu erkennen, die im Bereich der Sozialpolitik, aber auch in angrenzenden Politikbereichen nicht nur zu einer zunehmenden Harmonisierung und Zentralisierung führen, sondern auch mit einer signifikanten Erhöhung der von der europäischen Ebene „verwalteten“ Finanzmittel einhergehen dürften. Die angestrebte Implementierung der Europäischen Säule dürfte dabei als Legitimationsgrundlage für eine weitere Kompetenzverlagerung von den Mitgliedstaaten auf die europäische Ebene interpretiert werden und könnte zu einer Ausweitung der europäischer Regelungsdichte führen.[6] Aktuelle Bestrebungen seitens der Kommission, in einigen Politikfeldern wie der Sozial-, Steuer- oder Klimapolitik vom bisher vielfach geltenden Einstimmigkeitsprinzip im Rat abzuweichen und zu einer Beschlussfassung der Mitgliedstaaten mit qualifizierter Mehrheit überzugehen, unterstützen diese Vermutung.[7]

II. Bewertung aus Sicht der Stiftung Marktwirtschaft

Die Stiftung Marktwirtschaft sieht eine stärkere Zentralisierung der Sozialpolitik, die mit einer Verlagerung auf die europäische Ebene unausweichlich einherginge, aus mehreren Gründen kritisch und größtenteils nicht geeignet, um die bisherige Erfolgsgeschichte des Binnenmarktes und der europäischen Integration – auch in sozialen Bereichen – fortzuführen.[8] Vielmehr spricht vieles dafür, die bestehende, noch stark subsidiär geprägte Kompetenzverteilung zwischen der EU und den Mitgliedstaaten in der Sozialpolitik beizubehalten und höchstens in ausgewählten, für die Funktionsfähigkeit des Binnenmarktes und die Sicherstellung und Unterstützung der Freizügigkeit essentiellen Teilbereichen harmonisierte europäische Lösungen anzustreben. Entscheidende Argumente, die zu dieser Einschätzung führen, sind die Vorteile des Subsidiaritätsprinzips, eine größere Bürgernähe, transparentere Finanzierungsverantwortungen sowie effizientere und mit weniger Fehlanreizen verbundene politische Entscheidungsprozesse. Sie werden im Weiteren präzisiert.

Eine subsidiär und dezentral auf der Ebene der Mitgliedstaaten organisierte Sozialpolitik weist aus grundsätzlichen Erwägungen heraus erhebliche Vorteile auf, insbesondere da die EU auf absehbare Zeit keinen (wirtschaftlich) homogenen Bundesstaat darstellt. Erstens ermöglicht sie eine Berücksichtigung unterschiedlicher Präferenzen der Bürgerinnen und Bürger in den jeweiligen Mitgliedstaaten über Art und Intensität von sozialpolitischen Maßnahmen oder über das Ausmaß interpersoneller Umverteilung. Eine zentral vorgegebene, einheitliche Politik kann solche Präferenzunterschiede, die umso relevanter werden, je größer und vielfältiger ein Staatenbund ist, nicht angemessen berücksichtigen. Dabei gilt es, nicht nur die Präferenzen und Wünsche der von höheren europäisch festgelegten Sozialstandards vordergründig Begünstigten in den Blick zu nehmen, sondern auch derjenigen, die für die Finanzierung aufkommen oder die ökonomischen Auswirkungen zu tragen haben.

Schließlich gilt es, auch die Präferenzen der europäischen Bürger hinsichtlich einer europaweiten Ausweitung der Umverteilung über die Grenzen der Mitgliedstaaten hinweg zu berücksichtigen. Auf unteren föderalen Ebenen dürften altruistische Motive stärker ausgeprägt sein als auf europäischer Ebene, Einkommensumverteilung kann mithin als ein „lokales“ bzw. im EU-Kontext „nationales“ öffentliches Gut interpretiert werden.[9] Es ist zumindest zu hinterfragen, ob finanzielle Transfers, selbst wenn sie in akuten Krisensituationen auf breite Zustimmung auch in den Nettozahlerländern stoßen, dauerhaft in allen Mitgliedstaaten akzeptiert würden. Es besteht zumindest eine erhebliche Gefahr, dass der Einstieg in eine soziale Haftungs- und Transferunion durch eine weitere Zentralisierung der Sozialpolitik nicht zu mehr Akzeptanz der EU bei den Bürgern führen, sondern eher das Gegenteil bewirken und regionale und nationale Absetzbewegungen verstärken würde. Der Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU hat leidvoll gezeigt, wozu die – möglicherweise von den Bürgerinnen und Bürgern nur subjektiv empfundene – Missachtung nationaler Präferenzen durch Politikentscheidungen auf europäischer Ebene führen kann.

Zweitens ermöglichen nationale Zuständigkeiten den Mitgliedstaaten, mit passgenauen Regelungen zielgerichtet auf die jeweiligen wirtschaftlichen Gegebenheiten und sozialpolitischen Herausforderungen – beispielsweise aufgrund heterogener Arbeitsmärkte – zu reagieren.[10] Gleichzeitig entsteht durch die Vielfalt an nationalen Regelungen auch Raum, den europäischen Föderalismus als eine Art „Experimentierlabor“ für eine gute Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik zu nutzen („Laboratory Federalism“). Europaweit einheitliche sozialpolitische Regelungen würden es demgegenüber deutlich erschweren, dass die Länder voneinander lernen und erfolgreiche Reformen oder institutionelle Innovationen von anderen Mitgliedstaaten – gegebenenfalls angepasst an die eigene Situation – übernehmen können. Der EU käme dabei vor allem eine wichtige Rolle als Informationsvermittler zu, nicht aber als (einheitliche) Regeln setzende Instanz. Die Kommission betont im Aktionsplan zur ESSR zu Recht, dass die Arbeitsbedingungen in der EU zu den besten in der Welt gehören.[11] Gerade angesichts der von der Kommission diagnostizierten Herausforderungen durch die Digitalisierung und einer sich verändernden Arbeitswelt, kann ein dezentrales „Experimentieren“ wertvolle Erkenntnisse liefern, welche Regulierungsschritte und welche sozialpolitischen Maßnahmen notwendig und sinnvoll sind und welche nicht.

Drittens bestehen erhebliche gewachsene Unterschiede zwischen den sozialen Sicherungssystemen der Mitgliedstaaten, sowohl was ihre institutionellen und organisatorischen Strukturen als auch die Höhe ihrer jeweiligen Schutz- und Leistungsniveaus betrifft. Neben den bereits angesprochenen Präferenzunterschieden der Bürgerinnen und Bürger sowie einer nicht unerheblichen Pfadabhängigkeit bei der „evolutorischen“ Weiterentwicklung der sozialen Sicherungssysteme und ihrer Institutionen ist diese Heterogenität auch Ergebnis der nach wie vor unterschiedlichen wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit (Wirtschaftskraft) der Mitgliedstaaten.[12] Europaweit (einheitlich) geltende sozialpolitische Regelungen bergen gerade für wirtschaftlich schwächere Länder leicht die Gefahr einer Beeinträchtigung ihrer Wettbewerbsfähigkeit respektive Standortattraktivität. Sollte dieser Fall eintreten, würden sie in ihrem ökonomischen Aufholprozess empfindlich behindert und der angestrebte europäische Konvergenzprozess letztlich torpediert. Aus Sicht vieler Akteure in wirtschaftsstarken Wohlfahrtsstaaten haben einheitliche europäische Sozialstandards und Sozialleistungen auf einem hohen Niveau hingegen tendenziell den Charakter eines zwar subtilen, aber wirkungsvollen Protektionismusinstruments, das vor unliebsamer Konkurrenz schützt und damit dem Binnenmarktgedanken eklatant zuwiderläuft. Bei dem immer wieder von einzelnen Interessengruppen vorgebrachten Argument, man benötige im Rahmen der Sozialpolitik einheitliche europäische Regelungen zum Schutz vor Sozialdumping und unfairem Wettbewerb,[13] geht es vielfach de facto um das Gegenteil, nämlich wettbewerbsbehindernden Protektionismus. Würde man jeden wirtschaftlichen Standortvorteil in die Nähe von „Dumping“ rücken, bliebe vom (regionalen) Wettbewerbsprinzip und seinen positiven Auswirkungen auf Wohlstand und wirtschaftliche Dynamik nicht mehr viel übrig. Langfristig wäre ein solches Ergebnis für alle Beteiligen von Nachteil: Für die europäischen Konsumenten stiegen die Preise, Anbieter aus wirtschaftlich schwächeren Regionen der EU verlören wichtige Wettbewerbsvorteile und könnten dadurch Nachteile an anderer Stelle, beispielsweise ein niedrigeres Produktivitätsniveau, nicht mehr ausreichend kompensieren, so dass sie im Extremfall über kurz oder lang aus dem Markt auszuscheiden drohen. Doch auch die vermeintlichen Profiteure einer solchen protektionistischen Politik müssten mit Nachteilen rechnen, da die Verringerung der innereuropäischen Wettbewerbsintensität auf Dauer zu einem Verlust von Innovationskraft und Produktivität und damit auch an Wettbewerbsfähigkeit gegenüber Drittstaaten führen würde.

Schließlich kann die Weiterentwicklung der europäischen Sozialpolitik nicht losgelöst von der Frage der zukünftigen Finanzierung der EU diskutiert werden. Die aktuellen Maßnahmen zur ökonomischen Überwindung der COVID-19-Pandemie und dabei insbesondere das 750 Mrd. Euro schwere NextGenerationEU Aufbauinstrument zeigen nachdrücklich, dass eine Verlagerung sozialpolitischer Kompetenzen auf die europäische Ebene fast zwangsläufig mit einer besseren Finanzausstattung der EU einherginge. Aus Sicht der Stiftung Marktwirtschaft wären dadurch allerdings zusätzliche Probleme zu erwarten.

Zum einen ist es höchst zweifelhaft, dass es auf der Ebene der Mitgliedstaaten trotz wegfallender Kompetenzen zu gegenläufigen, kompensierenden Einsparungen käme. Vielmehr muss damit gerechnet werden, dass die Gesamtbelastung der Bürger weiter steigen wird. Gerade in (Nettozahler-)Ländern wie Deutschland, in denen die Bürger bereits heute durch Steuern und Sozialabgaben stark belastet werden und darüber hinaus die Steuer- und Abgabenlast aufgrund des demographischen Wandels in den kommenden Jahren ohnehin weiter steigen wird, drohen bei einer solchen Entwicklung negative Rückwirkungen, sowohl in ökonomischer Hinsicht als auch mit Blick auf die Akzeptanz der EU bei den Bürgern. Zum anderen kann nicht ausgeschlossen werden, dass es zu erheblichen (politischen) Fehlanreizen und Governance-Problemen insbesondere in den Hauptempfängerländern kommt, wenn europäische Finanzmittel in großem Umfang bereitstehen, deren Finanzierung nicht oder nur begrenzt im eigenen Land erfolgen muss. Die Erfahrungen im Zuge der Finanz- und Schuldenkrise – sowohl in deren Vorfeld als auch im Rahmen der sich anschließenden europäischen „Rettungspolitik“ – bieten für Fehlanreize und Fehlentwicklungen zahlreiche Beispiele. Und schließlich ist damit zu rechnen, dass bei einer Ausweitung des europäischen Finanzbedarfs sowohl die Frage nach einer dauerhaften Verschuldungskompetenz der EU, aber auch nach einer eigenständigen europäischen Steuerkompetenz noch mehr an Fahrt gewinnen würde. Beide Alternativen stellen jedoch angesichts der gegenwärtigen institutionellen Konstruktion der EU keine auch nur ansatzweise überzeugende Lösung dar.

III. Fazit

Es mag Politikfelder geben, in denen eine vertiefte europäische Integration und eine Verlagerung nationaler Kompetenzen und Zuständigkeiten auf europäische Ebene sinnvoll ist und für die Bürger mit einem echten Mehrwert einhergeht – etwa im Falle europaweiter öffentlicher Güter oder wenn es um die Handlungsfähigkeit der EU gegenüber Drittstaaten oder die Funktionsfähigkeit des europäischen Binnenmarktes geht. Die Sozialpolitik zählt allerdings größtenteils nicht dazu. Vielmehr weisen dezentrale sozialpolitische Kompetenzen auf der Ebene der Mitgliedstaaten Vorteile mit Blick auf effiziente und passgenaue politische Entscheidungen auf.[14]

Eine Vergemeinschaftung der Sozialsysteme würde die EU, noch weitergehend als schon durch bisherige Förderung und vor allem das noch befristete „Wiederaufbau“-Programm, dauerhaft in eine Transferunion verwandeln und dürfte mittel- und langfristig gerade für deutsche Bürgerinnen und Bürger mit erheblichen zusätzlichen finanziellen Belastungen verbunden sein. Abgesehen von einer Stärkung antieuropäischer Tendenzen in den Nettozahlerländern drohen außerdem auch (politische) Fehlanreize in den Nettoempfängerländern. Die gegenwärtige Kompetenzverteilung zwischen der EU und den Mitgliedstaaten sichert demgegenüber im Bereich der Sozialpolitik – zumindest im Grundsatz – noch ein weitgehendes Zusammenfallen von (politischer) Handlung und Haftung. Zudem kann die gegenwärtige dezentrale Kompetenzverteilung auch als konstitutionelle Beschränkung gegen das Entstehen eines ausufernden europäischen Leviathans interpretiert werden.

Grundsätzlich stellt sich die Frage, weshalb es angesichts des bereits europaweit bestehenden hohen Schutzniveaus überhaupt notwendig sein sollte, die EU stärker mit dauerhaften sozialpolitischen Kompetenzen zu betrauen, um europaweit einheitliche Regelungen und ein höheres Maß an sozialpolitischer „Homogenität“ zu realisieren. Bei allen Unterschieden, die zwischen den Mitgliedstaaten in wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht bestehen, handelt es sich doch – gerade auch im internationalen Vergleich – durchweg um hochentwickelte, demokratische Rechtsstaaten mit einem, jeweils gemessen an der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit, hohen sozialen Schutzniveau. In Mitgliedstaaten, in denen die Bürger gleichwohl umfangreichere soziale Leistungen oder höhere soziale Standards für sinnvoll erachten, können sie schon heute durch ihre Wahlentscheidungen entsprechende Reformen „anstoßen“.

Schließlich erscheint eine noch stärkere Verlagerung sozialpolitischer Kompetenzen auf die europäische Ebene auch aufgrund demokratietheoretischer Überlegungen problematisch, da sie in vielen Fällen zu einer weiteren Entfremdung der Bürger von der Politik führen dürfte. Politische Debatten auf EU-Ebene werden in der Öffentlichkeit häufig nur am Rande wahrgenommen. Die Gründe dafür sind vielfältig, dürften aber auch in den komplexen und für die Bürger wenig transparenten Entscheidungsprozessen zu sehen sein. Institutionalisierte Verfahren wie beispielsweise der europäische Trilog sind für viele Bürger noch immer ein Fremdwort und werden in der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen. Diese Bürgerferne erleichtert demgegenüber auf europäischer Ebene die politische Einflussnahme von Lobbyisten und Interessenverbänden. Ihre Möglichkeiten zur Verfolgung von Eigeninteressen dürften bei gestärkten europäischen Kompetenzen weiter wachsen und dazu führen, dass sie – mehr noch als bisher versuchen werden – für sie selbst vorteilhafte „soziale“ Initiativen und Forderungen, für die sich im jeweiligen nationalen Bereich keine demokratischen Mehrheiten finden lassen, über Brüssel durch die Hintertür durchzusetzen. Eine Kompetenzverlagerung auf europäische Ebene ginge zudem mit einer Entwertung der nationalen Parlamente und einer Zunahme der „exekutiven Dominanz“ einher. Die auf europäischer Ebene immer wieder angestoßenen (gesellschaftlichen) Konsultationsprozesse sind zwar anzuerkennen, vermögen aber an der unbefriedigenden Bürgerbeteiligung bei Entscheidungen auf europäischer Ebene nur wenig zu ändern. Die bisher in Deutschland gemachten Erfahrungen bei der Umsetzung europäischer Vorgaben in nationale Gesetze zeigen sehr deutlich, dass die nationale politische Diskussion in Deutschland in der Regel erst dann einsetzt, wenn die Entscheidung im Deutschen Bundestag ansteht. Dann aber ist es für eine Einflussnahme auf die europäische Gesetzgebung in der Regel viel zu spät.


[1]   Siehe https://ec.europa.eu/info/sites/default/files/social-summit-european-pillar-social-rights-booklet_de.pdf.

[2]   Siehe European Commission (2021), The European Pillar of Social Rights Action Plan, https://ec.europa.eu/info/files/european-pillar-social-rights-action-plan_en.

[3]   Vgl. European Commission (2021), The European Pillar of Social Rights Action Plan, https://ec.europa.eu/info/files/european-pillar-social-rights-action-plan_en

[4]   „The EU will support this effort with all available instruments: financial support via several EU funds to invest in fair recovery and the twin green and digital transitions; fostering the engagement of all actors; providing guidance and coordination of national economic and social policies via the European Semester; enforcing EU law; and leveraging its role as a global leader.“, vgl. European Commission (2021), The European Pillar of Social Rights Action Plan, S. 33f.

[5]   Vgl. European Commission (2021), The European Pillar of Social Rights Action Plan, S. 33ff. Die Kommission hebt dabei insbesondere die neue, aber zeitlich befristete Aufbau- und Resilienzfazilität (RRF – Recovery and Resilience Facility) als Herzstück von NextGenerationEU im Umfang von 672,5 Mrd. Euro hervor (davon sind 360 Mrd. Euro als Kredite und 312,5 Mrd. Euro als Zuschüsse vorgesehen). Hinzu komme u.a. eine bis Ende 2022 befristete Aufstockung der europäischen Strukturfonds im Umfang von 47,5 Mrd. Euro aus dem Aufbaufonds REACT-EU. Daneben fungiere der Europäische Sozialfonds (ESF+) mit einem Volumen von 88 Mrd. Euro weiterhin als traditionelles Hauptinstrument, um die Europäische Säule sozialer Rechte in die Praxis umzusetzen.

[6]   Vgl. auch vbw – Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft e.V. (2021), Information: Aktionsplan zur Umsetzung der Europäischen Säule sozialer Rechte vom 12.3.2021.

[7]   Vgl. dazu Eilfort/Bültmann/König/Raddatz (2021), Stellungnahme für die öffentliche Anhörung des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union des Deutschen Bundestages am 15. März 2021: „Effizientere Entscheidungsfindungen in der Sozialpolitik“, https://www.bundestag.de/resource/blob/828188/cadefb270e6f8e469f02f7cf4d2ba1e3/141-sv-eilfort-data.pdf.

[8]   Die nachfolgenden Argumente orientieren sich stark an Eilfort/Bültmann/König/Raddatz (2021), a.a.O. sowie Eilfort/Raddatz (2017), Weiterentwicklung der Sozialpolitik in der EU?, Positionspapier 09 der Stiftung Marktwirtschaft, https://www.stiftung-marktwirtschaft.de/fileadmin/user_upload/Positionspapiere/Positionspapier_09_EU-Sozialpolitik_2017_06.pdf.

[9]   Siehe grundlegend Pauly, Mark V. (1973), Income Redistribution as a Local Public Good, Journal of Public Economics, Vol. 2, S. 35-58.

[10] In vielen Fällen dürfte auch das notwendige institutionelle Wissen hinsichtlich der jeweiligen sozialpolitischen Herausforderungen unterhalb der EU-Ebene deutlich besser sein.

[11] Siehe European Commission (2021), The European Pillar of Social Rights Action Plan, S. 18.

[12] Das Problem der Pfadabhängigkeit wird beispielsweise in der Alterssicherung deutlich: So ist es nicht ohne weiteres möglich, von einem umlagefinanzierten Alterssicherungssystem zu einem kapitalgedeckten zu wechseln, u.a. da vom Übergangsprozess mehrere Generationen betroffen wären.

[13] Es soll an dieser Stelle nicht bestritten werden, dass im internationalen Handel (mit Drittstaaten) soziale Mindeststandards eine Berechtigung haben können, beispielsweise wenn es um den Schutz der Menschenwürde und grundlegender Lebensbedingungen geht. Vor dem Hintergrund, dass es sich bei den Mitgliedstaaten der EU jedoch durchweg um – im weltweiten Vergleich – wirtschaftsstarke und demokratisch organisierte Rechtsstaaten handelt, die nicht nur mit ihrem Beitritt zur EU den Acquis communautaire übernommen haben, sondern auch auf nationaler Ebene über ausgebaute Sozialsysteme verfügen, läuft der Vorwurf des Sozialdumpings im EU-Kontext bei objektiver Betrachtung in der Regel in die Leere. 

[14] An dieser Stelle soll nicht behauptet werden, dass die nationale Sozialpolitik in den Mitgliedstaaten der EU immer als effizient und ökonomisch überzeugend bewertet werden kann. Das Gegenteil ist häufig der Fall. Allerdings würde eine Verlagerung der Kompetenzen auf die europäische Ebene diese Probleme keineswegs lösen, sondern aufgrund der in Abschnitt II skizzierten Probleme vielmehr vergrößern.