Die Abschaffung des Solidaritätszuschlags – eine Frage des Rechts und des Anstands

Barbara Bültmann

Kernaussagen

  • Die Forderung nach einer kompletten Abschaffung des Solidaritätszuschlags ist zuallererst keine Entlastungsfrage, sondern eine Frage der Rechtsstaatlichkeit.
  • Der Solidaritätszuschlag muss in der laufenden Legislaturperiode vollständig abgeschafft werden, da mit Auslaufen des Solidarpakts II Ende 2019 die Grundlage für die Erhebung entfällt.
  • Die Politik steht in der Pflicht, ihre Glaubhaftigkeit zu wahren und sich rechtstreu zu verhalten.
  • Aufkommensfragen oder vermeintliche Gerechtigkeitsfragen dürfen der Rechtstreue nicht vorangestellt werden.
  • Wer die Progression will, muss die Regression ertragen.

Die langjährige Debatte um die Abschaffung des Solidaritätszuschlags ist nicht erst mit den Gesetzesentwürfen von Olaf Scholz und dem Vorschlag von Peter Altmaier scheinbar zu einer Frage der Ehre geworden. Die Fronten verlaufen dabei zwischen den Befürwortern von Steuerentlastungen (auch für Gutverdiener und Unternehmer – mithin die Leistungsträger der Gesellschaft) und den Umverteilern, die vermeintliche „Steuergeschenke für Spitzenverdiener“ strikt ablehnen.

So nachvollziehbar und relevant die Positionen nach Ansicht der jeweiligen Befürworter sind,  so verkennt dieser Schwerpunkt in der politischen Auseinandersetzung das eigentliche Problem: die Frage nach der Rechtmäßigkeit einer fortgesetzten Erhebung des Solidaritätszuschlags sowie der Glaubwürdigkeit und Verlässlichkeit gegebener Zusagen.

Der Solidaritätszuschlag wurde 1995 als Teil des Maßnahmenpakets zur Abdeckung der besonderen finanziellen Belastungen der Wiedervereinigung eingeführt und wird als Ergänzungsabgabe zur Einkommens- und Körperschaftsteuer erhoben (Art. 106 Abs. 1 Nr. 6 GG). Der Solidaritätszuschlag ist zwar per se nicht befristet und die Mittelverwendung ist nicht zweckgebunden, die Politik hat jedoch bei Einführung und auch in den Jahren danach zugesichert, beim Solidaritätszuschlag handele es sich um eine vorübergehende Maßnahme. Aus der Gesetzesbegründung und der rechtlichen Konzeption ergibt sich, dass die Erhebung einer Ergänzungsabgabe für konkrete Finanzbedarfsspitzen gedacht ist und nicht zur Deckung eines allgemeinen, strukturellen Mehrbedarfs.[1] Der Solidaritätszuschlag wird somit gerade nicht über die Finanzierung der allgemeinen staatlichen Aufgaben gerechtfertigt, sondern über einen speziellen Mehrbedarf aufgrund besonderer Umstände im Rahmen der Wiedervereinigung.

Im Laufe der fortgesetzten Erhebung und sinkenden Ausgaben für den Aufbau Ost wurde die Verfassungsmäßigkeit zunehmend in Frage gestellt. Bislang hat der Solidaritätszuschlag der gerichtlichen Überprüfung seiner Verfassungsmäßigkeit Stand gehalten – noch. Mit Auslaufen des Solidarpakts II Ende 2019 ist zu erwarten, dass sich die gerichtliche Beurteilung ändern wird. Eine fortgesetzte Erhebung des Solidaritätszuschlags über 2019 hinaus ist verfassungsrechtlich nicht gedeckt. Mit Auslaufen des Solidarpakts II endet der zusätzliche Finanzbedarf im Nachgang zur deutschen Wiedervereinigung und es tritt wieder eine “finanzverfassungsrechtliche Normallage”[2] ein, so dass von einer weiteren Erhebung des Solidaritätszuschlags zwingend Abstand zu nehmen ist. Und dies hat – anders als im Koalitionsvertrag vereinbart – sofort und vollumfänglich zu erfolgen und zwar aus mehreren Gründen.

Zum ersten ist die fortgesetzte Erhebung des Solidaritätszuschlags über das Jahr 2019 hinaus evident verfassungswidrig. Die ersten Kläger stehen bereits in den Startlöchern. Der Gesetzgeber darf die Beseitigung verfassungswidriger Zustände nicht zum wiederholten Mal (siehe Erbschaftsteuer, Grundsteuer oder Vermögensteuer) dem Bundesverfassungsgericht überlassen, sondern hat seinen von der Verfassung bestimmten Aufgaben gerecht zu werden. Das Bundesverfassungsgericht ist nicht der “Reparaturbetrieb“ des Gesetzgebers.

Zum zweiten steht die Politik seit Einführung des Solidaritätszuschlags bei den Bürgern im Wort, diese – als vorübergehende Ergänzungsabgabe – konzipierte Steuer mit Wegfall der Erhebungsgrundlage wieder abzuschaffen. Helmut Kohl hatte den Wegfall des Solidaritätszuschlags schon für das letzte Jahrtausend versprochen (“spätestens 1999 ist er weg”). Angesichts zunehmender Politikverdrossenheit und einem wachsenden Misstrauen gegenüber den Regierenden sind vertrauensbildende Maßnahmen dringend erforderlich. Der Solidaritätszuschlag bietet hierfür die Gelegenheit, längst gegebene Versprechungen einzuhalten. Ohne – wie bei vorangehenden Versuchen ihn abzuschaffen – sich der Vermutung der fehlenden Solidarität mit dem Osten der Republik gegenüberzusehen. Im Gegenteil, von einer steuerlichen Entlastung profitieren die Bürger im Osten wie im Westen.

Zum dritten muss die Politik Farbe bekennen. Das deutsche Steuersystem basiert im Wesentlichen auf dem Prinzip der Leistungsfähigkeit und dem Gedanken, dass jeder nach Maßgabe seiner individuellen ökonomischen Leistungsfähigkeit zur Finanzierung staatlicher Leistungen beitragen soll. Dieses fundamentale Prinzip der Besteuerung bedeutet allerdings im Umkehrschluss, dass derjenige, der mehr Steuern zahlt, spiegelbildlich von Entlastungen überproportional profitiert. Konsequenterweise kann jeder nur soweit entlastet werden, wie er vorher belastet wurde. Beim Solidaritätszuschlag, von dem sehr geringe Einkommen ohnehin gänzlich ausgenommen sind, wirkt dieses Prinzip umso deutlicher. Wer die Steuerprogression will, muss auch die Regression (d.h. die entsprechende positive Entlastung) ertragen. Sollen die Leistungsträger der Gesellschaft nicht entlastet, sondern weiter belastet werden, ist dies nicht über eine (unrechtmäßige) fortgesetzte Erhebung des Solidaritätszuschlags zu erreichen. Die Politik und insbesondere der Gesetzgeber ist dem Rechtsstaat verpflichtet und muss rechtsstaatliche Zustände herstellen. Ist ein Gesetz verfassungswidrig, ist jede weitere Anwendung zu unterlassen.  Aufkommensfragen können bei einem evident verfassungswidrigen Zustand der Rechtsstaatlichkeit nicht vorangehen und dürfen keine Rolle spielen.

Ist die im Falle einer Abschaffung des Solidaritätszuschlags eintretende Entlastungswirkung nicht – oder in Teilen nicht – gewünscht, so muss eine Anpassung auf einer anderen Ebene erfolgen, nämlich im Steuertarif. Mit offenem Visier und der ehrlichen Darlegung, um was es sich handelt: Eine Steuererhöhung für die Leistungsträger der Gesellschaft und für die Unternehmen und Unternehmer, die angesichts eines zunehmenden internationalen Steuerwettbewerbs und einer sich eintrübenden Konjunktur eigentlich dringend entlastet werden sollten, will Deutschland nicht – zu Lasten der gesamten Bevölkerung – als Standort zurückfallen.

Schon gar nicht sollte der Solidaritätszuschlag im Rahmen von Hinterzimmergesprächen und politischem Geschacher mit anderen Forderungen wie der nach einer Grundrente ohne Bedürfnisprüfung gekoppelt werden. Denn die Frage der Abschaffung des Solidaritätszuschlags ist keine Frage der Ehre zwischen unterschiedlichen politischen Lagern, sondern eine Frage des Rechts und des politischen Anstands, gegebene Zusagen einzuhalten und sich rechtstreu zu verhalten.

[1] Vgl. Kube, H.: “Verfassungsrechtliche Problematik der fortgesetzten Erhebung des Solidaritätszuschlags”, in DStR 2017, 1792ff.

[2] Ibid.