Eine europäische Arbeitslosenversicherung wäre eine schlechte Idee

Jörg König / Guido K. Raddatz

Kernaussagen

  • Der Vorschlag von Bundesfinanzminister Olaf Scholz zur Einführung eines European Unemployment Stabilization Fund sieht vor, ein System von grenzüberschreitenden Finanztransfers zu etablieren, das an der Arbeitsmarktentwicklung der EU-Mitgliedstaaten anknüpft und makroökonomische Schocks abfedern soll.
  • Die damit verbundene Hoffnung nach erhöhter makroökonomischer Stabilität hält einer kritischen Überprüfung der Argumente jedoch nicht stand. Vielmehr werden Fehlanreize gesetzt, die langfristig ein Abwälzen heimischer Risiken auf die anderen Mitgliedstaaten begünstigen. Die Diskussion um zusätzliche europäische Stabilisierungsinstrumente übersieht zudem, dass selbst abrupt auftretende wirtschaftliche Schieflagen zumeist aus strukturellen Fehlentwicklungen resultieren, die durch finanzielle Finanztransfers nicht gelöst werden.
  • Eine ökonomisch sinnvolle und eine an glaubwürdige Regeleinhaltung gebundene Ausgestaltung einer europäischen Arbeitslosenversicherung ist de facto kaum möglich.

Seit einigen Jahren kursieren in Europa Vorschläge für eine europäische Arbeitslosenversicherung als Ergänzung zu den bestehenden nationalstaatlichen Systemen. Hintergrund ist die Idee, einzelne Länder beim Abfedern von unvermittelt auftretenden starken Konjunktureinbrüchen zu unterstützen, um dort negative ökonomische Langfristfolgen zu vermeiden.

Grundsätzlich könnte eine europäische Arbeitslosenversicherung auf zwei Arten konstruiert werden. Zum einen in direkter Anknüpfung an die Sozialversicherungssysteme der Mitgliedstaaten: Dabei würde ein Teil der nationalen Sozialversicherungsbeiträge an einen europäischen Fonds fließen, der wiederum einen Teil der Versicherungsleistungen der nationalen Arbeitslosenversicherungen an die bezugsberechtigten Arbeitslosen, beispielsweise bis zu einer europaweit einheitlichen Grenze, übernimmt. Zum anderen ist denkbar, dass die europäische Arbeitslosenversicherung als eine Art Rückversicherung für „Katastrophenfälle“ ausgestaltet wird, die bei einem abrupten Anstieg der Arbeitslosenquote einen finanziellen Hilfstransfer an das betroffene Land bzw. die dortige Arbeitslosenversicherung leistet, um dort Beitragssatzerhöhungen, Leistungskürzungen oder die Aufnahme neuer Schulden zu vermeiden. Brüssel, Paris und Berlin scheinen derzeit das zweite Konzept einer Rückversicherung zu präferieren und stark vorantreiben zu wollen, wie das Reflexionspapier der Europäischen Kommission zur Vertiefung der Wirtschafts- und Währungsunion vom Mai 2017, der im Juni 2018 erfolgte Meseberger Schulterschluss zwischen Frankreich und Deutschland sowie der jüngste Vorschlag von Bundesfinanzminister Olaf Scholz zur Einführung eines European Unemployment Stabilization Fund (EUSF) demonstrieren.

Beide Konzepte überzeugen allerdings aus mehreren Gründen nicht:

Erstens würden sie die ökonomische Verantwortung zwischen europäischer und nationaler Ebene verwischen und damit tendenziell risikoreichere Politikentscheidungen begünstigen. Die Finanz- und Wirtschaftskrise hat jedoch eindrucksvoll belegt, was passieren kann, wenn der Einklang von Verantwortung und Haftung nicht gegeben ist. Solche Fehler dürfen nicht wiederholt werden. Höhe und Entwicklung der Arbeitslosigkeit in einem Land sind keineswegs nur von unbeeinflussbaren äußeren Faktoren abhängig, wie es die Verfechter einer europäischen Arbeitslosenversicherung mit dem Verweis auf asymmetrische externe Schocks Glauben machen möchten. Im Gegenteil wird die Beschäftigungsentwicklung in erheblichem Maße von der jeweiligen nationalen Arbeitsmarkt-, Sozial- und Wirtschaftspolitik beeinflusst. Das zeigt nicht zuletzt das deutsche Beispiel der Agenda 2010, die einen wichtigen Beitrag zur Halbierung der Arbeitslosigkeit seit dem Jahr 2005 geleistet hat. Eine kluge Arbeitsmarktpolitik entwickelt darüber hinaus institutionelle Vorkehrungen, um kurzfristig wirkende konjunkturelle Schocks abfedern zu können. So gelang es Deutschland während der Finanz- und Wirtschaftskrise, die Arbeitslosigkeit trotz eines dramatischen Einbruchs der Wirtschaftsleistung um über 5 Prozent des BIP nahezu konstant zu halten – nicht zuletzt dank verbreiteter Arbeitszeitkonten und staatlich unterstützter Kurzarbeit. Daher ist es gut begründet, dass die Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik zu den Kernkompetenzen der einzelnen Mitgliedstaaten und nicht der europäischen Ebene gehört. Dementsprechend unterschiedlich sind die nationalen Arbeitslosenversicherungen ausgestaltet, was beispielsweise Dauer und Höhe des Arbeitslosengeldes, die Voraussetzungen für Leistungsbezug oder auch die Ausgestaltung der Vermittlungsbemühungen betrifft. So unterschiedlich die nationalen Lösungen sein mögen, es besteht stets eine klare Kopplung von Verantwortung und Haftung. Eine Beteiligung Dritter an den Kosten der Arbeitslosigkeit ließe hingegen weniger verantwortungsvolle Politikentscheidungen erwarten. Darüber hinaus würden beim ersten Modell die heterogenen Systeme in den Mitgliedstaaten auf eine einheitliche europäische Ergänzungsversicherung treffen – und mannigfaltigen bürokratisch-administrativen Problemen Tür und Tor öffnen.

Zweitens wird es in der Regel kaum möglich sein, trennscharf und zeitnah zu unterscheiden, ob ein Anstieg der Arbeitslosigkeit auf konjunkturellen oder strukturellen Faktoren beruht. Das Vorliegen eines „unverschuldeten“ Ereignisses ist aber zentral für die Auszahlung aus einer Versicherung. Hinzu kommt, dass die Höhe der Arbeitslosigkeit (in Grenzen) manipulierbar ist. Sie hängt sowohl von definitorischen Abgrenzungen, als auch von Art und Intensität der aktiven Arbeitsmarktpolitik ab. In der Krise könnten die Arbeitslosenstatistiken entsprechend kreativ ausgelegt werden, um sich für die europäischen Hilfszahlungen zu qualifizieren. Darüber hinaus lässt sich trefflich streiten, weshalb ein Land mit ernsten Zahlungsschwierigkeiten „nur“ für die Arbeitslosenversicherung finanzielle Unterstützung erhalten sollte und nicht für den gesamten Apparat des nationalen Sozialsystems. Schließlich gerieten in einem solchen Krisenfall auch Alterssicherung, Gesundheitsversorgung und Grundsicherung unter Druck. Die Einführung einer europäischen Arbeitslosenversicherung könnte demnach ein dauerhaftes europäisches Subventionssystem für nationale Sozialpolitiken nach sich ziehen.

Drittens käme es gerade im Fall einer „Katastrophenversicherung“ zu erheblichen Dopplungen mit bestehenden Fiskaltöpfen auf europäischer Ebene. So sind im Stabilitäts- und Wachstumspakt bereits Ausnahmen verankert, die eine Überschreitung der Defizitkriterien erlauben. Hierzu zählt ausdrücklich ein „außergewöhnliches Ereignis, das sich der Kontrolle des betreffenden Mitgliedstaates entzieht und die staatliche Finanzlage erheblich beeinträchtigt, oder auf einen schwerwiegenden Wirtschaftsabschwung zurückzuführen ist“ (Art. 2 Abs. 1 EG-Verordnung 1467/97). Außerdem ist für finanzielle Hilfen in Krisenzeiten der Europäische Stabilisierungsmechanismus (ESM) geschaffen worden. Im Gegensatz zu den ESM-Hilfen sollen Auszahlungen über den von Scholz vorgeschlagenen EUSF jedoch voraussichtlich nicht mit Reformauflagen und der Rücksprache der nationalen Parlamente verknüpft werden. Eine solche europäische Arbeitslosenversicherung würde den ESM konterkarieren und den angestrebten Reformbemühungen fundamental zuwider laufen, da ein Teil der Kosten der Arbeitslosigkeit auf Dritte – die europäischen Partnerländer – abgewälzt werden könnte. Der Anreiz, eine gestiegene Arbeitslosigkeit durch – möglicherweise unbequeme – Strukturreformen zu bekämpfen, würde geschwächt und die ohnehin nicht allzu große Reformbereitschaft bei manchen Krisenstaaten könnte vollends zum Erliegen kommen.

Und schließlich können ökonomische Krisen auch symmetrisch eintreten. Die angestrebte Erhöhung der Konjunktursymmetrie im Euroraum – um eine für alle Mitgliedstaaten effizientere Geldpolitik betreiben zu können – lässt diesen Fall perspektivisch sogar wahrscheinlicher werden. Wenn sich jedoch mehrere Länder gleichzeitig am Katastrophenfonds bedienen möchten, werden schnell Rufe nach einer Erhöhung der Schlagkraft des Fonds lauter. Die im Vorschlag von Scholz avisierten nationalen Fondsbeiträge von jährlich 0,3 Prozent des BIP könnten entsprechend schnell in Dimensionen vorstoßen, die eingangs nicht zur Disposition standen.

Außerdem: Ist es wirklich vorstellbar, dass Länder mit einer dauerhaft zweistelligen Arbeitslosenquote Finanztransfers an ein Land wie Deutschland leisten würden, wenn bei uns die Arbeitslosigkeit aufgrund eines externen Schocks plötzlich von fünf auf sieben Prozent ansteigen sollte? Wer garantiert, dass die Mittel stets zweckgebunden verwendet und die Zahlungen wie vereinbart zurückgezahlt werden? Welche Ausnahmeregelungen werden hinzukommen, wenn die Krise länger anhält als vorgesehen? Scheinbar zu strenge Regeln lassen sich im Nachhinein schnell aufweichen, sobald das System einmal eingeführt ist, wie die Erfahrungen des Stabilitäts- und Wachstumspaktes mit über 100 nicht sanktionierten Verletzungen des fiskalischen Defizitkriteriums belegen. Und werden wie bei einer privaten Versicherung die Beitragszahlungen das Risiko des Versicherungsnehmers widerspiegeln? Das alles steht in den Sternen.

Viel wahrscheinlicher ist, dass die europäische Arbeitslosenversicherung zu einem institutionell verankerten Transfermechanismus zugunsten reformunwilliger Mitgliedsländer mutiert, bei dem die Zahlerländer keine Handhabung mehr haben, echte Reformen als Gegenleistung für die Finanzhilfen einfordern zu können. Eine solche Rückversicherung stärkt langfristig nicht die Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten, sondern lähmt die nationalen Reformprozesse und stärkt die populistischen Kräfte in Europa. Sie wäre nicht nur Wasser auf die Mühlen derjenigen, die im europäischen „Norden“ die Zahlmeister Europas sehen, sondern würde auch diejenigen im europäischen „Süden“ unterstützen, die sich – auf die Zahlungen der Mitgliedstaaten vertrauend – übermäßig verschulden, statt sich den notwendigen nationalen Reformen anzunehmen.

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