Die neue Bundesregierung möchte „mehr Fortschritt wagen“ und plant ein „Jahrzehnt der Zukunftsinvestitionen“. Gestaltungswillen und Reformbereitschaft zeigt sie vor allem in der Digitalisierungs- und Klimapolitik. In der Sozialpolitik drohen jedoch Rückschritte. Die Rentenpolitik zeugt angesichts des demografischen Wandels von Realitätsverlust.
Eine überzeugende Darlegung der Investitionsbedarfe und Finanzierungsmaßnahmen fehlt. Umso wichtiger ist das Bekenntnis zur Schuldenbremse und zu einer Überprüfung staatlicher Ausgaben und Subventionen. Zukunftsinvestitionen erfordern nicht zwingend mehr öffentliche Kredite, sondern Erleichterungen für die Umsetzung von Investitionen und eine Verbesserung der Standortattraktivität. Konkrete Maßnahmen wie etwa eine Steuerreform finden sich im Koalitionsvertrag allerdings kaum.
Angesichts zunehmender staatlicher Ausgaben- und Verschuldungsbestrebungen im Inland sowie in der EU wäre die neue Bundesregierung aus SPD, Bündnis90/Die Grünen und FDP gut beraten, nicht die Fehler der ersten sozialliberalen Ära ab 1969 zu wiederholen. Wie in der Digitalisierungs- und Klimapolitik sollte sie auch in der Sozial- und Finanzpolitik darum bemüht sein, nachhaltig zu agieren und die Belastungen für kommende Generationen zu berücksichtigen.
In Europa gibt es seit einigen Jahren Bestrebungen, die bisher größtenteils in nationaler Zuständigkeit liegende Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik stärker zu vereinheitlichen und durch EU-Vorgaben auszubauen. Auf dem Europäischen Sozialgipfel in Porto am 7. und 8. Mai 2021 soll das Ziel bekräftigt werden, die bisher rechtlich unverbindliche Europäische Säule sozialer Rechte durch konkrete Initiativen und Regulierungsvorhaben auf Basis des im März von der Kommission vorgelegten Aktionsplans voranzubringen.
Diese Pläne sind kritisch zu sehen und nicht geeignet, die Erfolgsgeschichte des Binnenmarktes und der europäischen Integration fortzuschreiben. Eine stärkere Zentralisierung der Sozialpolitik würde das Subsidiaritätsprinzip aushöhlen und wäre wohl der Einstieg in eine dauerhafte Transferunion bislang nicht gekannten Ausmaßes. Damit aber drohten nicht nur zahlreiche Fehlanreize und Governance Probleme, sondern am Ende auch ein weiteres Erstarken antieuropäischer Kräfte. Außerdem stellen einheitliche Sozialstandards ein subtiles, aber wirkungsvolles Protektionismusinstrument zugunsten der wohlhabenderen Staaten dar, während wirtschaftlich schwächere Mitgliedstaaten in ihrer Wettbewerbsfähigkeit beeinträchtigt und der europäische Konvergenzprozess behindert werden.
Die dezentrale Verortung der arbeitsmarkt- und sozialpolitischen Zuständigkeiten auf der Ebene der Mitgliedstaaten weist zahlreiche Vorteile auf: Neben der Berücksichtigung regionaler Präferenzunterschiede der Bürger sowie historisch gewachsener Unterschiede ermöglicht der Status quo den Mitgliedstaaten, passgenaue Lösungen für ihre jeweils spezifischen arbeitsmarkt- und sozialpolitischen Herausforderungen zu finden. Zudem wird institutioneller Wettbewerb und gegenseitiges voneinander Lernen (Föderalismus als Experimentierlabor) ermöglicht.
Eine Verlagerung nationaler Kompetenzen auf die europäische Ebene ist dort sinnvoll, wo es um europäische öffentliche Güter, die Funktionsfähigkeit des Binnenmarktes oder die Handlungsfähigkeit der EU gegenüber Drittstaaten geht. Die Sozialpolitik zählt allerdings größtenteils nicht dazu.