Schuldenabbau in Europa? Nicht mehr als ein Silberstreif am Horizont

Guido K. Raddatz

Kernaussagen

  • Vor allem Dank der insgesamt guten Konjunkturlage zeigt das europäische Nachhaltigkeitsranking 2017 der Stiftung Marktwirtschaft einen Rückgang der staatlichen Gesamtverschuldung in der EU. Im europäischen Durchschnitt ist die Summe aus expliziten und impliziten Schulden (Nachhaltigkeitslücke) um 39 Prozentpunkte auf 217 Prozent des BIP gesunken. Damit beläuft sie sich aber immer noch auf mehr als das Doppelte der jährlichen Wirtschaftsleistung.
  • Die deutsche Nachhaltigkeitslücke ist ebenfalls leicht gesunken – um 15 Prozentpunkte auf 146 Prozent des BIP. Deutschland belegt wie im Vorjahr Rang 9 des Rankings.
  • Vor dem Hintergrund der nach wie vor hohen staatlichen Gesamtschuldenlast sind die bisherigen Fortschritte beim Schuldenabbau in Europa allerdings nicht mehr als ein Silberstreif am Horizont. Weitere  Konsolidierungsanstrengungen sind unerlässlich, um zu nachhaltigen öffentlichen Finanzen zu kommen. Fortgesetztes fiskalisches Durchwursteln ist hingegen zu wenig.

In Deutschland sprudeln seit einiger Zeit Steuern und Sozialabgaben, sodass Gebietskörperschaften und Sozialversicherungen – im Aggregat – ohne größere Konsolidierungsanstrengungen einen Haushaltsüberschuss erzielen können. In Europa steht Deutschland damit vergleichsweise gut da. Nur acht weitere EU-Mitgliedstaaten werden gemäß der Herbstprognose der Europäischen Kommission das Jahr 2017 ebenfalls mit einem Überschuss abschließen können. Drei Länder – darunter die Schwergewichte Frankreich und Spanien – werden hingegen ein Haushaltsdefizit nahe an oder knapp jenseits der 3-Prozent-Grenze des Stabilitäts- und Wachstumspakts aufweisen. Die übrigen 16 Staaten sehen sich 2017 mit moderaten Defiziten von bis zu 2,1 Prozent des BIP konfrontiert.

Insgesamt wird das europäische 3 Prozent-Defizitkriterium im Jahr 2017 also grosso modo eingehalten. Zufriedenstellen kann die Lage der Staatsfinanzen in Europa gleichwohl nicht, insbesondere wenn man das derzeitige wirtschaftliche Umfeld berücksichtigt: Angesichts des deutlich positiven realen Wirtschaftswachstums in der EU von durchschnittlichen 2,3 Prozent im Jahr 2017, des niedrigen Zinsniveaus sowie der in der Vergangenheit entstandenen hohen expliziten Schuldenstände (EU-Durchschnitt Ende 2016: 85 Prozent des BIP) sind die derzeitigen Konsolidierungsbemühungen nicht ausreichend ambitioniert. Insgesamt scheint sich die Mehrheit der Mitgliedstaaten der EU mit einem fiskalpolitischen Durchwursteln zu begnügen. Gegen plötzlich auftretende neue Krisen oder einen Anstieg des durch die Europäische Zentralbank künstlich niedrig gehaltenen Zinsniveaus ist man damit allerdings nur schlecht gerüstet.

Dies gilt umso mehr, als die Mehrzahl der Staaten aufgrund der demografischen Alterung vor erheblichen fiskalischen Herausforderungen steht. Vor diesem Hintergrund hat die Stiftung Marktwirtschaft in Kooperation mit dem Forschungszentrum Generationenverträge der Universität Freiburg erneut die langfristigen Perspektiven der öffentlichen Haushalte der EU-Mitgliedstaaten analysiert.

Die Besonderheit dieses europäischen Schuldenvergleichs ist, dass neben den offiziell ausgewiesenen expliziten Schulden auch die heute noch nicht direkt sichtbaren impliziten Staatsschulden berücksichtigt werden. Letztere resultieren im Wesentlichen aus zukünftigen Primärdefiziten der öffentlichen Hand (d.h. Haushaltsdefiziten ohne Berücksichtigung von Zinsausgaben), die zu erwarten sind, wenn die gegenwärtige Fiskalpolitik unverändert fortgesetzt wird und zugleich die Folgen des demografischen Wandels in immer stärkerem Ausmaß für die öffentlichen Haushalte spürbar werden. Rechnet man die expliziten und impliziten Schulden jeweils für die einzelnen EU-Mitgliedstaaten zusammen, erhält man die in der Tabelle wiedergegebenen Nachhaltigkeitslücken.

EU-Nachhaltigkeitsranking 2017 (Basisjahr 2016)


Datenquellen: Europäische Kommission, Eurostat. Berechnungen: Forschungszentrum Generationenverträge.

Zentrale Ergebnisse des EU-Nachhaltigkeitsrankings 2017

  • Vor allem dank der europaweit guten Konjunktur zeigt das aktualisierte europäische Nachhaltigkeitsranking der Stiftung Marktwirtschaft im Jahr 2017 eine Verbesserung der Gesamtschuldensituation. Im europäischen Durchschnitt ist die Summe aus expliziten und impliziten Schulden – die sogenannte Nachhaltigkeitslücke – um 39 Prozentpunkte auf 217 Prozent des BIP gesunken. Allerdings beläuft sie sich damit noch immer auf mehr als das Doppelte der jährlichen Wirtschaftsleistung der EU und übersteigt die explizite Staatsverschuldung um das Zweieinhalbfache. Daran wird zugleich deutlich, dass die traditionelle Fokussierung auf den expliziten Schuldenstand (Maastricht-Kriterium) zu einer übermäßig optimistischen Einschätzung der tatsächlichen Lage der Staatsfinanzen führt.
  • Auf der Ebene der Mitgliedstaaten ist in 19 der 28 EU-Mitglieder – darunter Deutschland – eine Verringerung der Nachhaltigkeitslücke zu konstatieren. In neun Mitgliedstaaten ist sie hingegen gestiegen. Zentrale Triebfeder dieser Entwicklung sind Veränderungen in den aktuellen Primärsalden (Haushaltssalden ohne Berücksichtigung von Zinszahlungen).
  • Obwohl die deutsche Nachhaltigkeitslücke um 15 Prozentpunkte auf 146 Prozent des BIP gesunken ist, belegt Deutschland – wie im Vorjahr – Platz 9 im europäischen Nachhaltigkeitsranking. Umgerechnet beläuft sich der deutsche Gesamtschuldenstand auf knapp 4,6 Billionen Euro.
  • Die Spitzengruppe des Nachhaltigkeitsrankings mit der geringsten Gesamtverschuldung bilden Kroatien, Bulgarien, Schweden und Lettland, die allesamt eine Nachhaltigkeitslücke von unter 100 Prozent des BIP aufweisen. Kroatien, das Platz 1 belegt, ist darüber hinaus das einzige Land, dessen Fiskalpolitik als fiskalisch nachhaltig bewertet werden kann, da das implizite Vermögen die expliziten Schulden übersteigt. Die übrigen drei Länder der Spitzengruppe zeichnen sich durch sowohl niedrige explizite als auch niedrige implizite Schulden aus. Dabei profitieren sie nicht zuletzt von einer – voraussichtlich – sehr moderaten Entwicklung der altersabhängigen Ausgaben.
  • Mit Italien und Portugal weisen zwei weitere Länder ein – allerdings nur geringes – implizites Vermögen aus. Ihre zukünftigen Staatseinnahmen werden im Durchschnitt ausreichen, die zukünftigen Primärausgaben zu finanzieren. Allerdings leiden beide Länder unter einer hohen expliziten Verschuldung in Höhe von rund 130 Prozent des BIP, die sie im Ranking auf Platz 6 und 7 zurückwirft.
  • Schlusslichter des Nachhaltigkeitsrankings sind – wie im Vorjahr – Spanien, Irland und Luxemburg. Vor allem das Beispiel Luxemburg zeigt, dass vermeintlich vorbildliche Staatsfinanzen im Hier und Heute kein Indikator für eine nachhaltige Fiskalpolitik und dauerhafte fiskalische Stabilität sind: Luxemburgs Nachhaltigkeitslücke resultiert vor allem aus einem zu großzügigen Rentensystem, das auf Dauer nicht zu finanzieren sein wird. Im Fall von Irland ist zu beachten, dass die verwendete Rechenmethodik im Zusammenspiel mit der unterstellten hohen irischen Wachstumsannahme für den Zeitraum ab dem Jahr 2055 zu einer gewissen „Überzeichnung“ der Nachhaltigkeitsproblematik im Vergleich zu den anderen Ländern führt.
  • In 24 der 28 EU-Mitgliedstaaten übersteigen die impliziten Schulden die offiziell ausgewiesenen expliziten Schulden – und das zum Teil sehr deutlich. Allerdings sind die noch nicht direkt sichtbaren impliziten Schulden in der öffentlichen wie in der politischen Diskussion deutlich weniger präsent. Das ist nicht nur aus Gründen mangelnder Transparenz bedenklich, sondern erschwert vor allem rationale politische Entscheidungen, da die Lage der öffentlichen Finanzen optimistischer eingeschätzt wird, als sie tatsächlich ist.
  • Vor dem Hintergrund, dass die europäische Nachhaltigkeitslücke noch immer gut das Zweifache der jährlichen Wirtschaftsleistung beträgt, muss trotz der jüngsten Verbesserungen davor gewarnt werden, Konsolidierungsanstrengungen zu vernachlässigen. Im Gegenteil: Da 27 von 28 Mitgliedstaaten nicht über nachhaltige öffentliche Finanzen verfügen, sind europaweit weitere Strukturreformen und Konsolidierungsmaßnahmen das Gebot der Stunde. Das gilt insbesondere für die 16 Mitgliedstaaten, in denen die Gesamtverschuldung in Relation zum BIP die 200-Prozent-Marke übersteigt. Fiskalisches Durchwursteln ist angesichts der europaweit guten Konjunktur zu wenig!

 
 
Weitere Informationen finden sich in der Studie „Ehrbare Staaten? Update 2017 – Die Nachhaltigkeit der öffentlichen Finanzen in Europa“ von Fabian Peters Bernd Raffelhüschen und Gerrit Reeker (Argumente zu Marktwirtschaft und Politik Nr. 139, Stiftung Marktwirtschaft, Berlin).