Nachhaltigkeitsrücklage in der Rentenversicherung nicht für dauerhafte Geschenke verschwenden

Guido K. Raddatz

Kernaussagen

  • Bei ihren rentenpolitischen Vorhaben (u.a. „Mütterrente“, „solidarische Lebensleistungsrente“ und Absenkung des abschlagsfreien Renteneintrittsalters für langjährig Versicherte) lässt sich die Große Koalition nicht nur von einer zu optimistisch gerechneten Nachhaltigkeitsrücklage blenden, sondern sie ignoriert vor allem beträchtliche negative Auswirkungen auf die langfristige finanzielle Entwicklung der Gesetzlichen Rentenversicherung.
  • Wenn man die derzeit gute Finanzlage der Rentenversicherung politisch nutzen will, dann sollte man einmalig zur alten, bis 2006 geltenden Fälligkeitsregelung der Sozialversicherungsbeiträge zurückkehren.
  • Die im Koalitionsvertrag vereinbarten Rentenpläne belasten die Rentenversicherung hingegen dauerhaft. Ihre Umsetzung wäre mit langfristigen Kosten in Höhe von gut 600 Mrd. Euro bzw. 23% des Bruttoinlandsprodukts verbunden. Dadurch würde sich die bereits bestehende implizite Verschuldung der Rentenversicherung auf über 115% des BIP erhöhen.

In der noch jungen Großen Koalition scheint das Verteilen von Geschenken an die Bürger politisch als kleinster gemeinsamer Nenner herausgekommen zu sein. Dabei sollte sowohl der Politik als auch den Bürgern längst klar sein, dass staatliche Leistungen nicht kostenlos vom Himmel fallen, sondern am Ende des Tages von allen finanziert werden müssen, also auch von den „Beschenkten“ selbst und ihren Kindern – und das könnte teuer werden.

Als Steinbruch für sozialpolitische Wohltaten hat die Große Koalition vor allem die Gesetzliche Rentenversicherung ausgemacht. Nach Jahren unbequemer Reformpolitik wecken deren gute Einnahmeentwicklung sowie eine vermeintliche finanzielle Reserve – die sogenannte Nachhaltigkeitsrücklage – nicht nur Begehrlichkeiten, sondern schaffen in den Augen der Politik auch Spielräume für neue Leistungen – geplant sind insbesondere höhere „Mütterrenten“, eine „solidarische Lebensleistungsrente“ und eine Senkung des Renteneintrittsalters für langjährig Versicherte. Um die Finanzierung dieser Vorhaben wenigstens kurzfristig abzusichern, will die Große Koalition vorsorglich schon einmal den Beitragssatz der Gesetzlichen Rentenversicherung in einem gesetzgeberischen „Schnellverfahren“ bei 18,9% einfrieren (siehe Gesetzentwurf der Großen Koalition). Denn nach bisheriger Rechtslage müsste dieser eigentlich zum 1. Januar 2014 gesenkt werden, da die Nachhaltigkeitsrücklage mit rund 31 Mrd. Euro, was ca. 1,75 Monatsausgaben entspricht, die gesetzlich festgelegte Höchstgrenze von 1,5 Monatsausgaben1 überschreitet. Allerdings werden diese vorhandenen Mittel dringend benötigt, um die zusätzlichen Ausgabenwünsche der Großen Koalition zu finanzieren.

Bei ihren rentenpolitischen Vorhaben lässt sich die Große Koalition nicht nur von einer zu optimistisch gerechneten Nachhaltigkeitsrücklage blenden, vor allem ignoriert sie beträchtliche negative Auswirkungen auf die langfristige finanzielle Entwicklung der Gesetzlichen Rentenversicherung.

Ignorierter Sondereffekt: Vorgezogene Fälligkeit der Sozialversicherungsbeiträge seit dem Jahr 2006

Zunächst einmal ist die gut gefüllte Nachhaltigkeitsrücklage nicht nur das Ergebnis einer guten Beschäftigungs- und Wirtschaftsentwicklung, sondern auch Resultat eines einmaligen Sondereffekts, der bereits einige Zeit zurückliegt: der vorgezogenen Fälligkeit der Sozialversicherungsbeiträge seit dem Jahr 2006. Die Vorziehung des Fälligkeitstermins Anfang 2006 war im Jahr 2005 aufgrund der angespannten Liquiditätslage der Rentenversicherung als Notlösung beschlossen worden, um eine damals ansonsten unvermeidlich werdende Beitragssatzerhöhung (um rund 0,7 Prozentpunkte auf 20,2%) zu verhindern. Seit diesem Zeitpunkt müssen Arbeitgeber die Sozialversicherungsbeiträge für ihre Angestellten in Höhe der voraussichtlichen Beitragsschuld bereits im Monat der Lohn- und Gehaltszahlung abführen. Vor 2006 galt hingegen die Regelung, dass Sozialversicherungsbeiträge für Gehaltszahlungen, die in der zweiten Monatshälfte geleistet werden, erst bis zum 15. des Folgemonats an die Sozialversicherungen abgeführt werden müssen. Durch das Vorziehen der Fälligkeit ergab sich im Jahr 2006 ein einmaliger positiver Liquiditätseffekt in Höhe von etwa 80% der Pflichtbeiträge eines Monats, da das Gros der Lohn- und Gehaltszahlungen erst am Monatsende ausgezahlt wird. Dementsprechend standen 2006 nicht nur 12, sondern 12,8 Monatsbeiträge auf der Einnahmeseite zur Verfügung: Die Sozialversicherungsträger konnten nicht nur die Beitragszahlungen auf Basis der Löhne und Gehälter für die 12 Monate des Jahres 2006 (insbesondere im Dezember 2006) liquiditätswirksam verbuchen, sondern erhielten zu Beginn des Jahres – wie bis dato üblich – zusätzlich auch noch die zeitverzögerten Sozialversicherungsbeiträge für die bereits Ende Dezember 2005 gezahlten Gehälter. Korrigiert man die Nachhaltigkeitsrücklage der Rentenversicherung um diesen Einmaleffekt auf Basis heutiger Zahlen, so würde sie um rund 11,6 Mrd. Euro niedriger ausfallen und nur noch 19,4 Mrd. Euro betragen – das entspräche rund einer Monatsrücklage.

Kritikwürdig ist, dass das Vorziehen des Fälligkeitstermins für die Unternehmen mit problematischen Nebenwirkungen verbunden ist. So wird beispielsweise vorgebracht, dass für die Unternehmen im Vergleich zur Situation vor 2006 eine Liquiditätsminderung und damit einhergehend auch ein Zinsverlust entsteht. Dies ist zwar isoliert betrachtet richtig, aber ordnungspolitisch nicht wirklich überzeugend, denn die frühere Situation mit zeitversetzter Fälligkeit stellte letzten Endes einen zinsfreien Kredit des Staates an die Unternehmen dar. Deutlich schwerer wiegt hingegen ein anderes Problem, nämlich der bürokratische Aufwand, der mit der gegenwärtigen Regelung für die Unternehmen verbunden ist. Die Sozialversicherungsbeiträge müssen im Status quo bereits zu einem Zeitpunkt vorläufig ermittelt und abgeführt werden, zu dem das endgültige Monatsgehalt häufig noch gar nicht genau beziffert werden kann – etwa wegen schwankender Arbeitszeiten oder variabler Vergütungsbestandteile. In diesen Fällen ist eine nachträgliche Korrektur notwendig, so dass für zahlreiche Unternehmen ein insgesamt deutlich höherer Aufwand und erhebliche Bürokratiekosten entstehen.

Wenn man die aktuell gute Finanzlage in der Gesetzlichen Rentenversicherung und in den übrigen Sozialversicherungszweigen politisch unbedingt nutzen will, dann sollte man zur alten, bis 2006 geltenden Fälligkeitsregelung der Sozialversicherungsbeiträge zurückkehren. Damit würden zum einen die Unternehmen von unnötiger Bürokratie entlastet. Zum anderen handelte es sich fiskalisch nur um einen einmaligen – und damit vertretbaren – Einnahmeausfall, spiegelbildlich zu den einmaligen Mehreinnahmen 2006, nicht aber um dauerhafte Mehrausgaben oder Mindereinnahmen. Angesichts der nach wie vor bestehenden demographischen Herausforderungen wäre mit einem Verzicht auf Letztere viel gewonnen.

Ignoriertes Problem: Fehlende Nachhaltigkeit

Die statt dessen im politischen Fokus stehenden Änderungen – egal, ob es sich um eine inzwischen offenkundig verworfene Beitragssatzsenkung oder um Leistungsausweitungen handelt – sind hingegen dauerhaft angelegt. Ihre Umsetzung käme einer höchst problematischen zusätzlichen Belastung junger und zukünftiger Generationen gleich – und das, obwohl die Sozialversicherungen bereits heute eine erhebliche implizite Verschuldung aufweisen.2 Ruft man sich in Erinnerung, dass allein die Rentenversicherung eine Nachhaltigkeitslücke bzw. eine implizite Verschuldung von fast 95% des Bruttoinlandsprodukts aufweist – in der langen Frist fehlen also schon heute knapp 2.500 Mrd. Euro in der Rentenkasse –, dann wird dreierlei deutlich: Erstens können wir uns die geplanten zusätzliche Leistungsversprechen der Großen Koalition, welche die Nachhaltigkeitslücke der Rentenversicherung um etwa 23% des BIP oder gut 600 Mrd. Euro erhöhen würden, schlicht nicht leisten. Zweitens ist die gegenwärtige Nachhaltigkeitsrücklage in der Rentenversicherung von 31 Mrd. Euro nur ein kurzfristiges, bestenfalls einige Jahre andauerndes Phänomen und damit keine geeignete Grundlage für dauerhafte „Geschenke“. Und drittens verdient die Nachhaltigkeitsrücklage noch nicht einmal ihren Namen. Mit der Sicherung einer nachhaltigen Finanzentwicklung der Gesetzlichen Rentenversicherung hat sie jedenfalls rein gar nichts zu tun, so lange sie auf maximal 1,5 Monatsausgaben begrenzt ist. Früher war zwar nicht alles besser, aber zumindest war der bis 2004 verwendete Begriff „Schwankungsreserve“ ein Stück weit ehrlicher.

1Genaugenommen handelt es sich gemäß § 158 SGB VI um die „Ausgaben zu eigenen Lasten“. Diese sind definiert als „alle Ausgaben nach Abzug des Bundeszuschusses nach § 213 Abs. 2 SGB VI, der Erstattung und der empfangenen Ausgleichszahlungen“. Bereits 2012 und 2013 wurde der Beitragssatz zur Rentenversicherung aufgrund einer gut gefüllten Nachhaltigkeitsrücklage gesenkt, zunächst 2012 von 19,9% auf 19,6%, 2013 dann auf 18,9%.

2 Vgl. für Details zur impliziten Verschuldung Deutschlands Stiftung Marktwirtschaft (2013), Ehrbarer Staat, Die Generationenbilanz – Update 2013: Nachhaltigkeit der Wahlprogramme.